Dr. iur. h.c. Gerhard Strate

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Erfahrungen mit dem Grundrechtsschutz in der Strafrechtspflege in Deutschland

von Rechtsanwalt Dr. iur. h.c. Gerhard Strate, Hamburg

Erwarten Sie von mir kein Loblied. Zwischen den Grundrechten auf dem Papier und den Grundrechten in der Praxis klafft häufig ein tiefer Riß, manchmal gar ein Abgrund. Der in die Alltagspraxis bundesdeutscher Justiz eingebundene Strafverteidiger sieht sich bei der Wahrnehmung seiner Front- und Fronarbeit mit richterlichen Gemütszuständen konfrontiert, die nicht nur gelegentlich an das Bekenntnis erinnern, welches Heinrich Heine der Vorurteilsfreude deutscher Spießer zuschreibt: „Und meine Ignoranz hab’ ich mir selbst erworben!“

Immer wieder werden Durchsuchungen vollzogen, Haftbefehle erlassen und vollstreckt, wird Vermögen arretiert, ohne dass der Tatverdacht bereits einen Grad an Verdichtung erreicht hätte, der all das rechtfertigen würde. Hierbei wird häufig sogar vergessen, zumindest die äußere Optik rechtsstaatlichen Prozedierens einzuhalten: In einem zur Zeit in Leipzig anhängigen Verfahren[1] wurde die Haftzelle eines Untersuchungsgefangenen durchsucht; die Durchsuchungsanordnung erging allein nach mündlicher Instruktion des Ermittlungsrichters durch den zuständigen Staatsanwalt; dieser war so nett, dem Ermittlungsrichter zwar nur Aktenrudimente zu übersenden, in seinem Computer aber immerhin schon den Briefkopf des Amtsgerichts parat zu halten, so dass der Beschlussentwurf – nach Email-Übermittlung der Datei – nur noch durch Einsetzung des Aktenzeichens und des Datums sowie durch Anbringung der Unterschrift komplettiert werden musste. Daß der im Grundgesetz vorgesehene Richtervorbehalt auch eine inhaltliche Komponente hat, nämlich dem Beschuldigten durch eine eigenständige Überprüfung des Tatverdachts sowie der Ermittlungsziele einen quasi präventiven Rechtsschutz zu gewähren[2], hatte dort[3] noch keinen Eingang in die Praxis gefunden.

Wenn wir Strafverteidiger uns dennoch – trotz aller Widrigkeiten der Tagespraxis – von einem Grundstrom rechtsstaatlicher Denkungsart getragen sehen, verbunden mit der Aussicht, dass dieser, wenn auch nach manchen Mühen, stets sein Flussbett findet, dann ist es vor allem eine Institution, der dieses zu verdanken ist: das Bundesverfassungsgericht.

Neben dem US-Supreme Court gibt es wohl kaum ein Gericht, das derart weitgreifend und dauerhaft gestaltend die rechtsstaatliche Strukturierung eines Gemeinwesens in allen seinen Facetten betrieben hat wie das Bundesverfassungsgericht. Auch der Strafprozeß, in welchem es stets zu Eingriffen in Grundrechte, vor allem in das Freiheitsrecht, kommt, war seit Anbeginn an Gegenstand nachhaltiger verfassungsrechtlicher Betrachtung und verfassungsgerichtlicher Entscheidung.

In der Wissenschaft und auch in der ordentlichen Gerichtsbarkeit war man hiermit nicht immer glücklich. Die vom Bundesverfassungsgericht für die Handhabung des Strafprozeßrechts entwickelten Verfassungsgrundsätze wurden vielfach weniger als Befruchtung denn als Befrachtung verstanden, unter der ein traditionell gewachsenes, fein austariertes System formenstrenger Wahrheitsfindung zu zerdrücken drohte:

Einer der Nestoren des deutschen Strafprozeßrechts, Eberhard Schmidt, wurde bis zu seinem Tode nicht müde, ein Zeitalter zu schelten, in welchem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „seine Gewaltherrschaft angetreten“ habe [4]. Ein führender Kommentator in den siebziger Jahren, Karlheinz Meyer, konstatierte, das Bundesverfassungsgericht habe „über die Strafprozeßordnung ein engmaschiges, teilweise doppelt gewirktes Netz von Verfassungsgrundsätzen gelegt“, wodurch „das Recht in vielen Bereichen unberechenbar geworden“ sei[5]. Auch der Bundesgerichtshof zeigte Enthaltsamkeit: Normen und Grundsätze der Verfassung wurden nur selten herangezogen, um Entscheidungen zu begründen, in der Regel nur, um das bereits einfachrechtlich gefundene Ergebnis zu bestätigen – und wenn es denn ausnahmsweise anders war[6], erntete der Bundesgerichtshof von konservativer Seite sogleich geharnischte Kritik: Er solle doch gefälligst nicht der Verlockung erliegen, an die Stelle der Strafprozessordnung Rechtsgrundsätze treten zu lassen, die, wie der fair-trial-Grundsatz, „einer inhaltlichen Konkretisierung so wenig zugänglich sind, dass sie nicht einmal in die deutsche Sprache übersetzt werden können“[7].

Vereinzelt schlug die partiell anzutreffende Enthaltsamkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit gegenüber den Wegweisungen des Bundesverfassungsgerichts sogar in offene Rebellion um: So erklärte unlängst der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die – in Dreierbesetzung ergehenden – Entscheidungen der Kammern des Bundesverfassungsgerichts für unverbindlich; dies gelte jedenfalls dann, wenn die für die Beurteilung maßgebliche Frage zuvor noch nicht Gegenstand einer – in achtköpfiger Besetzung erfolgenden – Senatsentscheidung gewesen ist[8]. Er hat für diesen Vorstoß keinen Beifall gefunden[9].

Die hier – trotz aller Bekenntnisse zu den Verdiensten des Bundesverfassungsgerichts um die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens – gegenüber seiner Rechtsprechung wiederholt gezeigte Reserve entspringt keinem Hochmut, sondern dem früh begründeten, seitdem ungebrochenen und zur zweiten Natur gewordenen Bewusstsein, dass schon die Strafprozessordnung selbst ein „Ausführungsgesetz zum Grundgesetz“ darstelle[10]. Damit war der Geltungsrang des Prozeßgesetzes fast auf die Höhe der Verfassung selbst geschoben worden. Dieses Bewußtsein nährt sich aus historischer Erfahrung: Es ist die Erkenntnis vom unmittelbaren Freiheits-

wert „schützender Formen“[11], deren Aufweichung durch außerprozessuale Zweckmäßigkeitserwägungen tendenziell Willkür und Unfreiheit im Gefolge hat[12].

Dennoch: So verständlich die Zurückhaltung und partielle Kritik ist, mit der vor allem in der wissenschaftlichen Literatur die verfassungsgerichtlich entwickelten Begrifflichkeiten und Prinzipien aufgenommen worden sind, so ist durch sie eine Destabilisierung des einfachrechtlichen Normengefüges nicht eingetreten. Im Gegenteil: Es ist ein dauerhaftes Verdienst des Bundesverfassungsgerichts, den tragenden Prinzipien des Straf- und Strafprozeßrechts selbst ein verfassungsunmittelbare Ableitung und Anerkennung verschafft zu haben. Dies gilt vor allem – im materiellen Strafrecht – für den Schuldgrundsatz und – im Strafprozeßrecht – für das Gebot der Wahrheitsfindung hinsichtlich individueller Schuld als dem zentralen Anliegen des Strafprozesses.

Es ist hier nicht der Ort, die ganze Spannbreite verfassungsgerichtlicher Judikatur zum Strafrecht und Strafprozeßrecht aufzuzeigen. Nur beispielhaft seien einige grundlegende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus den letzten Jahren herausgegriffen, mit denen die Rechte der Verteidigung und der Grundrechtsschutz im Strafverfahren gestärkt worden sind:

Im Stadium des Ermittlungsverfahrens hat im bundesdeutschen Strafprozeß die Staatsanwaltschaft eine starke, fast übermächtige Stellung[13]. Dies zeigte sich vor allem am Umgang mit den Ermittlungsakten. Zwar hat der Verteidiger grundsätzlich Anspruch auf Einsicht in alle Akten (und Besichtigung aller Beweisstücke). So ausdrücklich § 147 Abs. 1 StPO. Die Ausnahme, die jahrzehntelang die Regel darstellte, folgt im Gesetzestext im nächsten Absatz: Ist der Abschluß der Ermittlungen noch nicht in den Akten vermerkt, so kann dem Verteidiger die Akteneinsicht versagt werden, „wenn sie den Untersuchungszweck gefährden kann“ (§ 147 Abs. 2 StPO). Dies führte in der staatsanwaltschaftlichen Praxis zur Ausübung eines diskretionären (man kann auch sagen: willkürlichen) Ermessens in der Handhabung des Akteneinsichtsrechts. Dies verurteilte den professionell arbeitenden Verteidiger zu Phasen längerer Tatenlosigkeit. Wer will dem Mandanten zu einer Aussage raten, wenn er – mangels Kenntnis der Ermittlungsergebnisse – durch seine Aussage Gefahr läuft, sich um Kopf und Kragen zu reden? Eine offensive Verteidigung war durch die Praxis der Staatsanwaltschaft, die Akten erst einmal bei sich zu behalten, blockiert.

Der Umbruch erfolgte durch eine Kammerentscheidung des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4.8.1994[14]: Zwar sei grundsätzlich gegen eine Beschränkung des Akteneinsichtsrechts im Falle einer Gefährdung des Ermittlungserfolgs verfassungsrechtlich nicht zu erinnern. Ist der Beschuldigte inhaftiert, so habe er aber unter Umständen ein nicht bis zum Abschluß der Ermittlungen aufschiebbares Interesse an Aktenkenntnis. Denn während durch die Ermittlungen als solche regelmäßig nicht unmittelbar in Rechte des Beschuldigten eingegriffen werde, liege in diesem Fall ein Eingriff in das Recht des Beschuldigten auf Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes vor, dessen freiheitssichernde Funktion auch im Verfahrensrecht Beachtung fordere. Dieses Grundrecht verleihe dem Informationsinteresse des Beschuldigten gegenüber den Erfordernissen der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren ein höheres Gewicht. Der entscheidende Satz lautet: „Aus dem Recht des Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren und seinem Anspruch auf rechtliches Gehör folgt mithin ein Anspruch des inhaftierten Beschuldigten auf Einsicht eines Verteidigers in die Akten, wenn und soweit er die sich darin befindenden Informationen benötigt, um auf die gerichtliche Haftentscheidung effektiv einwirken zu können und eine mündliche Mitteilung der Tatsachen und Beweismittel, die das Gericht seiner Entscheidung zugrunde zu legen gedenkt, nicht ausreichend ist.“

Die Entscheidung wird in der Praxis beachtet. Sie mag zum Teil auch segensreich in der Richtung wirken, dass sich die Staatsanwaltschaft nunmehr von manchem Haftbefehlsantrag abgehalten sieht, um sich nicht zu frühzeitig in die Karten schauen zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Rechtsprechung inzwischen auch ausgedehnt auf den Fall, dass der Beschuldigte zwar nicht inhaftiert ist, wohl aber mit dem schwerwiegenden Eingriff eines dinglichen Arrests in sein Vermögen überzogen wird[15], dies begründet mit dem schönen Satz: „Im Strafverfahren wirken Geheimhaltungsinteressen in dubio pro reo“ und generell erläutert mit der Feststellung: „Der Rechtsstaatsgedanke gebietet es, dass der von einer strafprozessualen Eingriffsmaßnahme betroffene Beschuldigte jedenfalls nachträglich, aber noch im gerichtlichen Verfahren über die Rechtmäßigkeit des Eingriffs, Gelegenheit erhält, sich in Kenntnis der Entscheidungsgrundlagen gegen die Eingriffsmaßnahme und den zu Grunde liegenden Vorwurf zu verteidigen.“[16]

Immer wieder wegweisende Entscheidungen gelangen dem Bundesverfassungsgericht auch im Recht der Untersuchungshaft. Hervorzuheben ist insbesondere der Beschluß des Zweiten Senats vom 7.10.1981, in welchem dieser zum ersten Mal ausdrücklich aussprach, dass die formelle Freiheitsgarantie des Art. 104 Abs. 1 Grundgesetz[17] die Beachtung der Formvorschriften eines freiheitsbeschränkenden Gesetzes zum Verfassungsgebot erhebt: „Verstöße gegen die durch Art. 104 Abs. 1 GG gewährleisteten Voraussetzungen und Formen freiheitsbeschränkender Gesetze stellen daher stets auch eine Verletzung der Freiheit der Person dar.

Durch Art. 104 Abs. 1 GG wird die Beachtung der sich aus dem jeweiligen Gesetz ergebenden freiheitsschützenden Formen zur Verfassungspflicht erhoben, deren Einhaltung durch den Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde abgesichert wird.“ [18]

Mit dieser Entscheidung wurde den Verfahrensvorschriften der Strafprozeßordnung (aber auch anderer freiheitsbeschränkender Gesetze), soweit sie die Voraussetzungen und das Prozedere beim Erlaß eines Haftbefehls regelten, unmittelbar der Geltungsrang einer Verfassungsvorschrift verliehen.

Das Recht, Verfahrensverstöße beim Erlaß oder der Aufrechterhaltung von Haftbefehlen – nach Erschöpfung des Rechtsweges – unmittelbar mit der Verfassungsbeschwerde anzugreifen, ist seither vielfach von den Betroffenen und ihren Anwälten genutzt worden. Das Bundesverfassungsgericht hat von der sich selbst zugesprochenen Befugnis, Haftbefehle auf ihre formale Korrektheit und – bei der Aufrechterhaltung des Haftbefehls – auf die strikte Einhaltung des Beschleunigungsgrundsatzes zu überprüfen, weidlich und gelegentlich sogar fast etwas ungestüm Gebrauch gemacht. Der verfassungsrechtlich verankerte Beschleunigungsgrundsatz verlange in Haftsachen, so das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Der Vollzug von Untersuchungshaft über die Dauer eine Jahres hinaus sei nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen[19].

Hierbei sind es nicht nur die Oberlandesgerichte, die sich gelegentlich vom Bundesverfassungsgericht die Leviten lesen lassen müssen. Auch der Bundesgerichtshof wird – was seine Bearbeitungsdauer in Revisionssachen anbelangt – von harscher Kritik nicht verschont. In dem Falle eines mehrjährig Inhaftierten, dessen Revision wiederholt Erfolg hatte, wurde die auf weitere Aufrechterhaltung der Haft lautende Entscheidung des Landgerichts und des Oberlandesgerichts auch deswegen beanstandet, weil die dilatorische Bearbeitung der Sache durch den Bundesgerichtshof hätte bedacht werden müssen. Der Vorsitzende des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs musste sich hierbei attestieren lassen:

„Angesichts der exorbitant hohen Verfahrensdauer von damals bereits fünfeinhalb Jahren schlechthin unbegreiflich ist des Weiteren die Tatsache, dass am 20. Februar 2003 die mündliche Verhandlung über die Revision des Beschwerdeführers erst für den 26. Juni 2003 anberaumt wurde. Der Vorsitzende versucht, diese Verzögerung von über vier Monaten mit der Terminslage des Senats und vor allem damit zu rechtfertigen, dass die durch die Revision des Beschwerdeführers aufgeworfene grundsätzliche Rechtsfrage einer vertieften Vorbereitung der Entscheidung unter Verarbeitung der umfangreichen einschlägigen Literatur bedurft habe. Er teilt jedoch auch insoweit nicht mit, welche anderen bereits anhängigen Haftsachen von noch bedeutenderem Gewicht als die des Beschwerdeführers einer früheren Terminierung zwingend entgegenstanden und weshalb nach einer Vorbereitungszeit von bereits mehr als drei Monaten (ein Monat für die Erstellung des Vorgutachtens, mehr als zwei Monate für dessen Prüfung und das Durcharbeiten des Senatshefts durch den Berichterstatter und den Vorsitzenden bis zur anschließenden Beratung im Senat) gleichwohl noch eine weitere vertiefte Vorbereitung von abermals vier Monaten erforderlich war. Rechtfertigungsbedürftig erscheint dies vor allem auch deshalb, weil sowohl

das Ergebnis als auch die Begründung der Entscheidung vom 24. Juli 2003 durch die mit Urteil des Bundesgerichtshofs vom 11. Mai 1976 - 1 StR 166/76 -, BGHSt 26, 332 (335) getroffene Grundsatzentscheidung zur ratio legis des § 168c Abs. 5 Satz 1 StPO und nicht zuletzt auch durch die wertsetzende Bedeutung des Anspruchs des Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren, auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und auf verfahrensrechtliche Waffengleichheit im Strafprozess weithin vorgezeichnet erscheinen.

Auch wenn sich für die Durchführung eines strafgerichtlichen Revisionsverfahren starre zeitliche Grenzen nur schwer festlegen lassen, kann dies gleichwohl nicht bedeuten, dass das Revisionsgericht in der Erledigung seiner Verfahren frei wäre (vgl. Krehl, StV 2005, S. 561 <562>). Dies gilt namentlich dann, wenn es - wie hier - in vorausgegangenen Verfahrensabschnitten zu erheblichen Verfahrensverzögerungen gekommen ist. In solchen Fällen verpflichtet das Beschleunigungsgebot das Revisionsgericht regelmäßig dazu, das Verfahren in besonderer Weise zu fördern und für eine rasche Bearbeitung des Rechtsmittels Sorge zu tragen (vgl. Krehl, StV 2005, S. 561 <562>). Letzteres gilt vor allem dann, wenn - wie hier - eine Aufhebung des Urteils unter Zurückverweisung der Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung infolge eines der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers im Raum steht.“[20]

Dieser Beschluß mag in der Entschiedenheit seiner Wortwahl nicht dem regelmäßig anzutreffenden Stil verfassungsgerichtlicher Ermahnung und Zurechtweisung entsprechen. Das Zitat fiel dennoch etwas länger aus, da die fragliche Passage die manchmal regelrecht schneidende Souveränität des Bundesverfassungsgerichts im Umgang mit den Kollegen der ordentlichen Gerichtsbarkeit veranschaulicht.

Mit diesen beiden Beispielen aus der Rechtsprechung unseres Bundesverfassungsgerichts mag es in diesem Rahmen sein Bewenden haben. Die kaum zu verhehlende Sympathie, die der Verfasser für das Bundesverfassungsgericht hegt, soll allerdings auch nicht vergessen machen, dass dieses Gericht mit jährlich 4000 – 5000 Verfassungsbeschwerden konfrontiert ist. Welche Beschwerde zur Entscheidung angenommen wird, läßt sich nie sicher prognostizieren. Die Nichtannahme der Entscheidung ist die Regel. Die generelle Erfolgsquote liegt bei 2%. In einem zur Zeit noch in Hamburg anhängigen Verfahren schrieb sich der Verfasser mit insgesamt acht Verfassungsbeschwerden die Finger wund. Sechs Beschwerden, allesamt bestmöglich begründet, wurden nicht zur Entscheidung angenommen. Die siebte Beschwerde hatte immerhin schon das Ergebnis, daß zumindest ein Verfassungsrichter sie unterstützte, sodaß der gesamte Senat – dann im Stimmenverhältnis von 7:1 – über die Nichtannahme entscheiden musste. Eine achte Verfassungsbeschwerde brachte dann immerhin die Aufhebung einer Arrestentscheidung[21] und – im Anschluß hieran – die erfolgreiche Ablehnung von zwei Instanzrichtern wegen Besorgnis der Befangenheit.

Zum Abschluß: Im Umgang mit diesem Gericht gibt es manchmal auch liebenswert-skurrile Geschichten. Eine davon ist die des Michael Jauernik[22]. Er war ein Bayer in Hamburg und hatte zweimal die Deutsche Bank am Jungfernstieg überfallen. Während der Verbüßung seiner mehrjährigen Freiheitsstrafe hatte er sich zum kenntnisreichen Hobbyjuristen entwickelt. Mit insgesamt mehr als 300 Eingaben bei der Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und vielen Anträgen bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts sowie Klagen beim Verwaltungsgericht (weil die Baulichkeiten in Fuhlsbüttel zum Teil gegen die hamburgische Bauordnung verstießen), nervte er die Berufsjuristen, jedenfalls bei der Behörde (beim Landgericht hatten seine Eingaben zu 10% immerhin Erfolg). Man wollte ihn loswerden und entdeckte, dass er Bayer ist. In Absprache mit dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz wurde er plötzlich von heute auf morgen in die Justizvollzugsanstalt nach Straubing verlegt. Die Bayern hatten die Zuversicht, mit ihrem Landsmann besser fertig zu werden[23]. Gegen die Verlegung wandte sich Jauernik mit einer Verfassungsbeschwerde. Das Verfassungsgericht signalisierte sehr früh, dass es die Beschwerde zur Entscheidung annehmen wolle. Leider zögerte sich die Entscheidung hin, weil keine Einigkeit darüber erzielt werden konnte, ob die Sache im Senat oder nur in der Kammer entschieden werden sollte. In der Zeit des Wartens – während Jauernik wegen diverser Unbotmäßigkeiten in Straubing einen Arrest nach dem anderen absolvieren musste und ungeduldig wurde – wandte sich der Verfasser an Dr. Wolf, den wissenschaftlichen Mitarbeiter des Berichterstatters (das war der damalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Mahrenholz). Um die Zeit des Wartens zu überbrücken, schlug Dr. Wolf[24] spontan vor, vielleicht könne er Mahrenholz dafür gewinnen, Jauernik einmal in Straubing anzurufen und mit ihm ein kurzes Gespräch zu führen. So geschah es dann auch. Im Dezember 1992 meldete sich auf der Geschäftsstelle der JVA Straubing ein „Mahrenholz, Bundesverfassungsgericht“ und bat darum, mit Herrn Jauernik sprechen zu können. Die Antwort kam kurz und trocken: „Des kann a jeder sogn!“ Man erbat von dem Anrufer die Telefonnummer, um durch einen Rückruf sicherzugehen, dass da ein echter Verfassungsrichter in der Leitung sei. Er war echt. Mahrenholz führte anschließend mit Jauernik ein fast halbstündiges Gespräch. Danach wurde Jauernik in Straubing nur noch mit Glacèhandschuhen angefasst. Am 28.2.1993 erging die stattgebende Verfassungsgerichtsentscheidung [25]. Jauernik kam wieder nach Hamburg zurück. Die Justizbehörde gab auf und gewährte ihm sofort den offenen Vollzug. Von neuerlichen Eingaben wurde sie verschont und Jauernik nach weiteren anderthalb Jahren aus der Haft entlassen.

Ein Verfassungsgericht, welches nicht nur die großen Linien zieht, sondern genügend Bodenhaftung behält, um die Nöte des Bürgers zu spüren, ist für die so ausgestattete Republik ein Segen.


[1] Gegen die dort ergangene Durchsuchungsanordnung ist ein Verfassungsbeschwerdeverfahren anhängig.

[2] BVerfGE 103, 142, 151.

[3] Die Strukturierung der Justiz im Freistaat Sachsen wurde nach der Wende an bayerischen Vorbildern orientiert.

[4] JZ 1968, 682; NJW 1969, 1141.

[5] Karlheinz Meyer, in: Festschrift für Kleinknecht, München 1985, 268/269.

[6] BGHSt 32, 44ff.

[7] Karlheinz Meyer, JR 1984, 184.

[8] BGH in NJW 2006, 1529 ff.

[9] Strate in NJW 2006, 1480; Niemöller in DRiZ 2006, 229 ff.; Krehl in StV 2006, 408 ff.

[10] Diese schöne Formulierung wird verschiedenen Urhebern zugeschrieben; sie findet sich beispielsweise bei Sax in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/2, Berlin 1959, S. 867; vgl. auch BGHSt 19, 325, 330; BVerfGE 32, 373, 383: „Konkretisiertes Verfassungsrecht“.

[11] Zachariae; Handbuch des deutschen Strafprozesses, I. Bd. Göttingen 1860, S. 144 ff.

[12] Diese Gefahr zeigt insbesondere der vom Bundesverfassungsgericht in den siebziger und achtziger Jahren gern gebrauchte Topos von der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“, deren Aufrechterhaltung ein rechtsstaatliches Postulat sei; hierzu kritisch Hassemer in StV 1982, 275 ff. (Hassemer ist seit 1996 selbst Richter am Bundesverfassungsgericht, seit 2002 dessen Vizepräsident).

[13] Die gerichtliche Voruntersuchung wurde im deutschen Strafprozeß durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (BGBl. I 1974, 3393) mit Wirkung zum 1.1.1975 abgeschafft.

[14] BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats) in NStZ 1994, 553.

[15] BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats) in NJW 2006, 1048.

[16] A.a.O. 1049.

[17] „Die Freiheit der Person kann nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden.“

[18] BVerfGE 58, 208, 220.

[19] Ständige Rechtsprechung: BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats) in NStZ 2000, 153.

[20] BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats) in NJW 2006, 672, 675.

[21] BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats) in StV 2004, 409.

[22] Seine namentliche Erwähnung geschieht mit seinem Einverständnis.

[23] Diese Hoffnung war natürlich verfehlt. Jauernik überschüttete die Gefängnisverwaltung in Straubing mit einer Vielzahl von Eingaben und unterstützte andere Gefangene in ihren Anliegen. In den anderthalb Jahren seines Aufenthalts in Straubing wurden insgesamt acht Verfassungsbeschwerden des Michael Jauernik, Fragen des Strafvollzuges betreffend, durch das Bundesverfassungsgericht positiv entschieden (Berichterstatter war damals der Bundesverfassungsrichter Kruis, der selbst vor seiner Tätigkeit beim Bundesverfassungsgericht hoher Beamter im Bayerischen Staatsministerium der Justiz war).

[24] Er ist heute Vorsitzender Richter beim Landgericht Marburg und Verfasser des maßgeblichen Kommentars zur Strafvollstreckungsordnung.

[25] BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats) in NJW 1993, 3191 f.

 

 
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