Laudatio
– anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Rechtsanwalt Gerhard Strate, gehalten im Festsaal der Universität Rostock am 20. November 2003 –
von Prof. Dr. Wolfgang Wohlers (Universität Zürich)
Es ist mir eine besondere Ehre und Freude, heute zu diesem Anlass zu Ihnen sprechen zu dürfen. Eine Ehre ist es für mich natürlich schon deshalb, weil es die erste derartige Laudatio ist, die ich bei zu so einem Anlass halten darf. Und wenn dann der zu Ehrende nicht nur irgend jemand ist, den man mehr oder weniger gut von Veröffentlichungen her kennt – oder zu kennen meint; sondern wenn es sich um einen Freund handelt, der gleichzeitig auch noch der ehemalige Arbeitgeber ist, dann ist dies tatsächlich ein – wie man in der Schweiz sagen würde – spezieller Anlass, den man unter keinen Umständen versäumen möchte und der dann auch eine Anreise von mehr als 1000 km rechtfertigt.
Wenn ich recht sehe, gibt es im wesentlichen zwei Unterarten von Ehrendoktoraten: Da ist zunächst die Ehrendoktorwürde, die verdienten und meist schon etwas älteren Kollegen verliehen wird und der aus meiner Sicht des öfteren ein etwas schaler Beigeschmack anhaftet. Zum einen deshalb, weil diese Ehrung – insoweit vergleichbar der mehr oder weniger obligatorischen Festschrift – eine Ehrung für ein im wesentlichen abgeschlossenes Lebenswerk darstellt. Zum anderen aber auch deshalb, weil diese Ehrungen – zumindest gelegentlich – auf Gegenseitigkeit verliehen werden. Mit der anderen, der zweiten Art von Ehrendoktoraten, werden dagegen nicht haupt-, sondern nebenberuflich als Wissenschaftler tätige Praktiker geehrt. Mit dieser – aus meiner Sicht sehr viel höher einzuschätzenden Ehrung – erfahren Leistung ihre Anerkennung, die wissenschaftlich von Bedeutung sind, die aber außerhalb des universitären Betriebs erbracht wurden. Die Ehrendoktorwürde, die heute hier verliehen wird, fällt ganz eindeutig in diese zweite Kategorie. Geehrt wird ein Praktiker, der in mehrfacher Hinsicht Bedeutendes geleistet hat. Er ist nicht nur einer der – bundesweit gesehen – bekanntesten und profiliertesten Strafverteidiger; er ist vielmehr – und dies ist in unserem Zusammenhang ohne Frage von besonderer Relevanz – ein Autor, dessen wissenschaftliches Werk der Strafrechts- und vor allem der Strafprozessrechtsdogmatik wichtige Impulse gegeben hat.
Ich möchte zunächst das von Gerhard Strate erbrachte wissenschaftliche Werk würdigen. Darüber hinaus möchte ich dann aber auch noch aufzeigen, dass die Juristische Fakultät mit der Verleihung dieser Ehrendoktorwürde nicht nur eine verdiente Ehrung ausgesprochen, sondern auch sich selbst einen Gefallen getan hat. Dazu aber später, zunächst zur Würdigung des wissenschaftlichen Werks.
Wie lässt sich dieses in möglichst wenigen Worten beschreiben? Vielleicht so:
Nach einer kurzfristigen Abirrung in das Konkursrecht, auf die ich hier schon mangels eigener Kompetenz nicht weiter eingehen möchte, hat sich Gerhard Strate in den letzten 25 Jahren kontinuierlich zu Fragen des Ausländerrechts, vor allem aber auch zu strafrechtlichen und strafprozessualen Fragestellungen geäussert. Die Beiträge zeichnen sich durchweg dadurch aus, dass praxisrelevante Fragestellungen wissenschaftlich durchdrungen und einer Lösung zugeführt werden, die möglicherweise dem einen oder anderen Justizjuristen als zu weitgehend – als zu „beschuldigtenfreundlich“ – erscheinen mögen, die aber stets einem gleichbleibenden Leitmotiv verpflichtet sind. Einem Bestreben, das in den eigenen Worten Gerhard Strates darin besteht – ich zitiere – „die Freiheitsgarantien unserer Verfassung gegen ihre schleichende Aufzehrung durch tagespolitischen Opportunismus sowohl auf Seiten der Justiz als auch auf Seiten des Gesetzgebers zu verteidigen.“
Die Reihe der Publikationen zu straf- und strafprozessualen Themenstellungen beginnt 1978 mit einem Aufsatz „Zur Mitteilung der Blutalkoholbefunde im strafrichterlichen Urteil“ und endet derzeit – wenn ich nichts übersehen habe – mit dem Beitrag „Freie Beweiswürdigung und gebundene Beweiserhebung“ in der Festschrift für Peter Rieß. Die Hauptthemen Gerhard Strates sind zunächst einmal die Rechtsstellung des Beschuldigten und der Verteidigung; des weiteren geht es immer wieder um Fragen des Revisionsrechts und des Rechts der Wiederaufnahme des Verfahrens. Die zwischenzeitlich über 50 Beiträge können an dieser Stelle nur´beispielhaft gewürdigt werden. Ich möchte drei Beiträge herausgreifen, anhand derer die spezifischen Qualitäten exemplarisch aufgezeigt werden
können.
Auch wenn das Hauptinteresse Gerhard Strates eher dem Prozessrecht gehört, beginne ich mit dem materiellen Strafrecht und hier mit einem Beitrag aus dem Jahre 1987. In diesem Beitrag, publiziert in der Zeitschrift für Rechtspolitik, geht es unter dem Titel „Mit Taktik zur Wahrheitsfindung“ um die Probleme, mit denen die Verteidigung in Betäubungsmittelverfahren zu kämpfen hat. Neben einigen in diesem Bereich besonders relevanten prozessualen Fragestellungen setzt sich Gerhard Strate insbesondere auch mit der Auslegung des Straftatbestandes des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln nach § 29 I Nr. 1 BtMG auseinander. Handeltreiben i.S. dieser Norm erfasst nach der Rechtsprechung des BGH „jede eigennützige, den Umsatz des Betäubungsmittels fördernde Handlung, ohne dass es zur Anbahnung bestimmter Geschäfte gekommen sein muss“. Diese Rechtsprechung lässt – in den Worten Gerhard Strates – „dem Betäubungsmitteltäter keinen Spielraum mehr. Hat er über Betäubungsmittel geredet, dann gilt es nur noch, den Ernst seiner Rede zu konstatieren, um ihn als Händler einzustufen. Hat er das Betäubungsmittel gestohlen, dann ist er Händler, wenn er das Betäubungsmittel nach dem Diebstahl nicht sofort wegwirft, sondern bei sich aufbewahrt. Denn aus dem Aufbewahren lässt sich der schnelle Schluss ziehen, dass er es auch anderen Personen gegenüber verwerten wollte. Pönalisiert wird nicht erst das Handeltreiben im engeren, landläufigen Sinne; die Strafbarkeit setzt schon bei Handlungsweisen ein, die von der eigentlichen Rechtsgutsverletzung noch weit entfernt sind. Das Handeltreiben ist in der Rechtsprechung längst zu einem unechten Unternehmensdelikt ausgestaltet worden, das nicht nur den Versuch, sondern schon Handlungen einschließt, die in anderen Kriminalitätsbereichen noch
als straflose Vorbereitungshandlungen gelten würden.“
Strate belässt es aber nicht nur bei dieser Analyse. Weiter lesen wir: „Durch diese weite, jeden konkreten Bezug auf den inkriminierten Stoff verlassende Rechtsprechung wird nicht etwa das Gewicht des zu schützenden Rechtsgutes das der Volksgesundheit – bekräftigt, im Gegenteil: es wird in Luft aufgelöst. Entsprechend dem Worte Radbruchs, dass der Mord nicht deshalb Unrecht ist, weil er bestraft wird, sondern bestraft wird, weil er Unrecht ist, darf eigentlich nicht jedes Gerede über Betäubungsmittel – mag es auch Heroin betreffen – Unrecht sein. Unrecht verlangt immer auch die beginnende Konkretisierung einer Gefahr für das Rechtsgut. Dies scheint mir in der Rechtsprechung des BGH aus den Augen verloren zu gehen.“ Die Konsequenz sei – so Strate –, „dass es für die Beschuldigten aus den materiellen Normen des Betäubungsmittelrechts – einmal darin verfangen – regelmäßig kein Entrinnen gibt. Mit strafrechtlichen Normen kann aber irgendetwas nicht stimmen, wenn sie uns in einem abgeschlossenen Kriminalitätsbereich nur noch Schuldige präsentieren.“
Die kritische Würdigung der geradezu hemmungslos expansiven Rechtsprechung des BGH ist zunächst nicht nur folgenlos, sondern auch vereinzelt geblieben. Noch in einer fünf Jahre später veröffentlichten Anmerkung musste Roxin feststellen, es sei doch „erstaunlich“, in welch geringem Maße die Literatur sich mit dieser bedenklichen Rechtsprechung kritisch auseinandergesetzt habe. Als Ausnahme lobend hervorgehoben wird der Beitrag von Strate. In der Folgezeit hat der von Strate begründete kritische Ansatz dann in der Literatur zunehmend Unterstützung gefunden – der von Strate eingenomme Standpunkt dürfte heute der ganz herrschenden Lehre entsprechen. Im Frühjahr dieses Jahres – also nach einer Bedenkpause von gerade einmal 16 Jahren – will sich nun auch der 3. Strafsenat den Begriff des Handeltreibens einer einschränkenden Auslegung unterziehen, insbesondere nicht mehr jede eigennützige, auf Umsatz gerichtete Handlung per se als ein Handeltreiben einstufen. Da dies mit einer langjährigen ständigen Rechtsprechung des BGH brechen würde, bedarf es einer Abstimmung zwischen den verschiedenen Senaten. Eingeleitet wird dieses Abstimmungsverfahren mit einem sog. Anfragebeschluss, der an die anderen Senate zu richten ist. Im Anfragebeschluss des 3. Senats wird nun an prominenter Stelle auf den Beitrag von Strate verwiesen. Wer die Zitiergewohnheiten des BGH kennt, der kann in etwa die Bedeutung abschätzen, die diesem Beitrag auch aus der Sicht des 3. Strafsenats zukommt. Ob sich die anderen Senate des BGH ebenfalls überzeugen lassen werde, ist derzeit noch nicht abzusehen. Aber: Wie auch immer die Sache letztlich ausgeht: schon die Tatsache allein, in einer praktisch und dogmatisch so zentralen Frage einen Anfragebeschluss ausgelöst zu haben, kann und darf wohl jeden haupt- oder nebenberuflichen Strafrechtswissenschaftler mit Stolz und Genugtuung erfüllen.
Verlassen wir nun den Bereich des materiellen Strafrechts und wenden wir uns dem Strafprozessrecht zu. Aus diesem Bereich habe ich zunächst einen Aufsatz ausgewählt, den Gerhard Strate zusammen mit seinem Kanzlei Kollegen Klaus-Ulrich Ventzke verfasst hat. In diesem Beitrag, publiziert 1986 in der Zeitschrift StV, geht es um die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 137 I 1 StPO. Diese Bestimmung sieht vor, dass sich der Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines Verteidigers bedienen kann – also auch bei der ersten Vernehmung durch die Polizei. Missachtet wird diese Norm in der Praxis insbesondere dann, wenn die mit der Sache befassten Ermittlungsbeamten den Eindruck haben, der Beschuldigte stehe kurz vor einem Geständnis oder könne durch eine gewisse „Ermunterung“ zu einem solchen veranlasst werden. Die Mitwirkung eines Strafverteidigers wird in diesen Fällen als kontraproduktiv eingestuft und zum Teil sogar dann hintertrieben, wenn der Beschuldigte ausdrücklich den
Wunsch äussert, einen Verteidiger zu sprechen.
Strate und Ventzke setzen sich in ihrem Beitrag kritisch mit der Rechtsprechung des BGH auseinander, nach der die unter Missachtung des § 137 I 1 gewonnenen Erkenntnisse verwertbar sein sollen. Auf der Basis einer sorgfältigen, die Entstehungsgeschichte der Norm und eine rechtsvergleichende Betrachtung der einschlägigen Rechtsprechung des US Supreme Court einbeziehenden Argumentation legen Strate und Ventzke im Einzelnen dar, dass richtigerweise ein Verwertungsverbot angenommen werden muss. Auch dieser Aufsatz, dem niemand anderes als Roxin das Prädikat „wegweisend“ verliehen hat, hat dann den Bundesgerichtshof zu einer Änderung seiner Rechtsprechung veranlasst, die mit der Entscheidung BGHSt 38, 372 vollzogen wurde und die diesmal sogar nur sechs Jahre auf sich warten ließ. Dass der BGH auch in dieser Entscheidung den Aufsatz von
Strate und Ventzke als einzige Literaturstimme genannt hat, passt in das uns
nun schon bekannte Bild.
Als letztes Beispiel möchte ich nun noch auf den Beitrag eingehen, den Gerhard Strate 1990 für die Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer verfasst hat. Anzumerken ist hier zunächst, dass Gerhard Strate im Inhaltsverzeichnis dieser Festschrift als „Dr. jur., Rechtsanwalt, Hamburg“ firmiert. Man kann dies natürlich so interpretieren, dass die mit der Erstellung des Inhaltsverzeichnisses betrauten Personen prophetische Gaben hatten; realistischerweise wird man aber wohl eher annehmen müssen, dass sie sich einfach nicht vorstellen konnten, dass ein nicht promovierter schlichter Rechtsanwalt zum erlauchten Kreis der zur Mitwirkung an dieser Gedächtnisschrift aufgerufenen Autoren zählen könnte. Wie auch immer: Der Beitrag mit dem Titel „Tragweite des Verbots der Beweisantizipation“ setzt sich kritisch mit der in der Wiederaufnahmepraxis vorherrschenden Tendenz auseinander, im Zweifel zugunsten der Rechtskraft zu entscheiden. Strate tritt ein für die Geltung des Prinzips der Wahrheitsermittlung auch im Wiederaufnahmeverfahren, ein Standpunkt dem sich nun – im Rahmen eines ebenfalls durch Gerhard Strate angestrengten Verfassungsbeschwerdeverfahrens – auch die 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG angeschlossen hat.
Ich bedauere es, auf einige andere – aus meiner Sicht ebenfalls bedeutsame – Beiträge nicht näher eingehen zu können. Um aber Ihre Geduld nicht über Gebühr zu strapazieren und den zeitlichen Rahmen dieser Veranstaltung nicht zu sprengen, beschränke ich mich auf eine persönliche Anmerkung: Mein erster Kontakt mit Gerhard Strate war nicht der Kontakt zum Strafverteidiger Gerhard Strate, sondern der Kontakt mit dem Autor Gerhard Strate, dessen 1985 im Strafverteidiger publizierter Beitrag „Zur Kompetenzordnung im Hauptverfahren“ eine nicht unwichtige Erkenntnisquelle für den damaligen Doktoranden Wolfgang Wohlers war.
Erlauben möchte ich mir des weiteren auch noch die Anmerkung, dass sich das wissenschaftliche Werk Gerhard Strates neben seiner inhaltlichen Qualität durch einen ebenso geschliffenen wie klaren und unprätentiösen Stil auszeichnet. Als Referendar und auch später als Mitarbeiter war diese Gabe, präzise und anschaulich, gleichzeitig aber elegant zu formulieren, für mich ein Ideal, dem ich – damals und heute – selbst nachzueifern versuche. Als eher schon beängstigend stellt sich eine andere Gabe dar: die Fähigkeit, den Entwurf eines Textes immer an der Stelle aufzuschlagen, an der sich dann mit nahezu 100%iger Sicherheit ein Tippfehler oder eine grammatikalische Absurdität findet. Der Rat an alle zukünftigen Referendare kann deshalb nur der sein: Texte sind nicht direkt zu übergeben, sondern besser in der Unterschriftenmappe zu deponieren.
Und schließlich: Wer immer noch glaubt, das eine fundierte Auseinandersetzung mit strafrechtlichen oder strafprozessualen Problemstellungen notwendigerweise trocken und fade sein muss, der sei insbesondere auf den 1999 in der Zeitschrift StV publizierten Beitrag „Der Verteidiger in der Wiederaufnahme“ verwiesen. Noch besser wird das Ganze natürlich dann, wenn Gerhard Strate über diese Thematik referiert, was ich selbst mehrfach bei den von uns beiden gemeinsam durchgeführten Veranstaltungen im Rahmen der Fachanwaltsausbildung verfolgen konnte. Grundsätzlich ist es für mich zwar nicht nur vorteilhaft, wenn wir diese
Veranstaltungen zusammen durchführen – meine Bewertung durch die Teilnehmer fällt jedenfalls stets signifikant schlechter aus als bei den Veranstaltungen, die ich allein durchführe. Mehr als aufgewogen wird dies aber durch das Vergnügen, zuzuhören, wenn Gerhard Strate unterhaltend, selbstironisch und gleichzeitig auf sachlich hohem Niveau über die Tätigkeit des Verteidigers im Wiederaufnahmeverfahren referiert.
Ich hoffe, mit meinen Ausführungen gezeigt zu haben, dass das wissenschaftliche Werk Gerhard Strates die Verleihung einer Ehrendoktorwürde rechtfertigt. Die Würdigung des wissenschaftlichen Lebenswerkes würde aber zu kurz greifen, wenn man nur auf die Veröffentlichungen abstellen würde. Zu berücksichtigen ist des weiteren die Tätigkeit als Initiator und Herausgeber von Publikationen, die sich sowohl bei Praktikern als auch bei Rechtswissenschaftlern besonderer Wertschätzung erfreuen.
Zu erwähnen ist hier zum einen der „Informationsbrief Ausländerrecht“, den Gerhard Strate 1978 mit dem leider zwischenzeitlich verstorbenen Kollegen Rittstieg begründet hat und den er bis zum heutigen Tage redaktionell leitet. Der Informationsbrief Ausländerrecht hat sich in kürzester Zeit zu einer der führenden Zeitschriften auf dem Gebiet des Ausländer- und Asylrechts entwickelt. Gleiches gilt für die Zeitschrift „Strafverteidiger“ deren Schriftleiter Gerhard Strate in den ersten anderthalb Jahren ihres Bestehens war und dessen wissenschaftlichem Beirat er noch heute angehört. Diese Zeitschrift hat sich zu einem wichtigen, wenn nicht zum wichtigsten Forum entwickelt, auf dem sich Strafrechtswissenschaftler und Strafverteidiger austauschen. Die Bedeutung dieser Zeitschrift liegt aber vor allem darin, dass sie das Veröffentlichungsmonopol der Strafgerichte aufgebrochen hat. Während vor 1981 nur relativ wenige, sorgsam ausgewählte Entscheidungen publiziert wurden, haben Strafverteidiger seit 1981 die Möglichkeit, die Entscheidungen, die gegen sie bzw. – genauer gesagt – gegen ihre Mandanten ergangen sind, auch dann zur Veröffentlichung einzusenden, wenn die Gerichte diese Entscheidungen lieber nicht veröffentlicht sehen würden. Der ominöse Giftschrank, den es dem Vernehmen nach bei jedem Revisionsgericht gegeben haben soll, hat damit im wesentlichen ausgedient.
In die gleiche Richtung aber noch einen konsequenten Schritt weiter geht das
jüngste, durch Gerhard Strate initiierte und verantwortlich geleitete Publikationsprojekt: die Internet-Zeitschrift „Höchstrichterliche Rechtsprechung Strafrecht“ – kurz: hrr-strafrecht.de. Anstoss für dieses Projekt war der Umstand, dass Gerhard Strate vor einigen Jahren den Computer und das Internet für sich entdeckt hat. Rein praktisch gesehen hatte dies den Vorteil, dass man zu Beginn einer Besprechung zunächst mal den neuesten Star Wars Trailer ansehen konnte oder aber mit neuen interessanten Entscheidungen des US Supreme Court oder des Verfassungsgerichts der Republik Südafrika versorgt wurde. Gerade der Umstand, dass in anderen Ländern – insbesondere in den Ländern des anglo-amerikanischen
Rechtskreises – die obergerichtliche Judikatur vollständig, zeitnah und vor allem kostenlos im Internet zum Abruf bereit steht, hat dann die Idee reifen lassen, etwas Entsprechendes auch in Deutschland auf die Beine zu stellen. Geboren und umgesetzt wurde die Idee, die strafrechtliche Judikatur des BGH vollständig zu dokumentieren und – mit Stichwörter, Paragraphen-Nachweisen und Leitsätzen versehen – der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen und damit den Zugriff auf dieses Entscheidungsmaterial, wie Gerhard Strate sich ausgedrückt hat, zu „demokratisieren“. Die Entscheidungssammlung erfasst die Rechtsprechung des BGH ab dem 1.1.1999 vollständig; hinzu kommen ausgewählte, strafrechts- und strafprozessrechtsrelevante Entscheidungen anderer Gerichte, insbesondere des BVerfG und des EGMR. Dass hrr-strafrecht.de (Höchstrichterliche Rechtsprechung Strafrecht.de) mit monatlichen Zugriffszahlen von über
100.000 den am Absatz ihrer völlig überteuerten Fachzeitschriften interessierten Fachverlagen ein Dorn im Auge ist, bedarf keiner weiteren Ausführung.
Die Entscheidung, das Projekt hrr.strafrecht auf die Beine zu stellen, ist nicht nur deshalb sehr hoch einzuschätzen, weil Gerhard Strate dieses Projekt – in dem Bestreben, von den Verlagen unabhängig zu bleiben – aus eigener Tasche finanziert hat; es ist vor allem deshalb so hoch einzuschätzen, weil dieses Projekt der Kanzlei selbst überhaupt nichts nützt, ihr jedenfalls keinen Vorteil bringt: die Kanzlei Strate und Ventzke gehört nämlich zu dem Kreis ausgewählter Revisionsspezialisten, denen der BGH sowieso alle Entscheidungen zukommen lässt. Dass so entstandene Archiv ist eine wahre Fundgrube, auf die ich auch heute noch gerne zurückgreife, wenn es darum geht, unveröffentlichte ältere BGH- Entscheidungen auszugraben. Gleiches gilt im Übrigen für die Bibliothek. Ich werde nie vergessen, wie ich am ersten Tag meiner Referendarstation in der Bibliothek stehe, meinen Blick über die älteren Werke aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wandern lasse und dann auf Anhieb auf ein Buch stoße, dass ich gerne für meine Dissertation verwendet hätte, das für mich aber weder in Hamburg noch in Berlin greifbar war.
Wenn ich an dieser Stelle ein Zwischen-Resümee ziehe, dann kann ich wohl festhalten: Die Universität Rostock hat mit der heute vorgenommenen Ehrung den Richtigen getroffen. Mit dieser Feststellung möchte ich nun zu meiner bereits eingangs angesprochenen zweiten These überleiten, nach der sich die Juristische Fakultät mit der Verleihung dieser Ehrendoktorwürde auch selbst einen Gefallen getan. Was meine ich damit?
In einer Zeit, in der die Juristischen Fakultäten Schwerpunkte bilden und Profil zeigen müssen und in der – meiner Meinung nach grundsätzlich zu recht – eine Stärkung des Praxisbezugs der universitären Ausbildung gefordert wird, setzt die Verleihung einer Ehrendoktorwürde an einen der profiliertesten Strafverteidiger des Landes ein Zeichen. Eigentlich müsste jede Juristische Fakultät, die sich nach aussen hin darstellen und ihren Studenten etwas bieten möchte, das über den üblichen akademischen Alltag hinausgeht, ein Interesse daran haben, wissenschaftlich ausgewiesener Praktiker an sich zu binden. In besonderer Weise gilt dies natürlich für eine Fakultät, die – wie die Juristische Fakultät der Universität Rostock – ihr Profil gerade auf die Tätigkeit des Anwalts hin ausgerichtet hat.
Wir wissen – entweder aus der Sicht des Zuhörenden oder aus der Sicht des Lehrenden oder aus beiden Perspektiven – dass die besondere Schwierigkeit der Lehrveranstaltungen zum Verfahrensrecht darin besteht, diese Materie so zu präsentieren, dass den Studenten mehr vermittelt wird als die bloße Technik des Verfahrens. Das Strafverfahrensrecht gibt dem Strafverfahren eine Form, ohne die es nicht auskommen kann. Die Funktion des Strafverfahrensrechts erschöpft sich aber nicht darin, dem Verfahren „irgendeine“ Form zu geben. Die Ausgestaltung des Verfahrensrechts gibt Aufschluss darüber, wie eine Gesellschaft mit ihren Bürgern umgeht: Behandelt sie auch den einer Straftat Verdächtigen weiterhin als Bürger oder aber – unter Verkennung elementarer rechtsstaatlicher Standards – als einen Feind, der – mit welchen Mitteln auch immer – zu bekämpfen und zu vernichten ist?
Fehlt dem Dozenten die eigene praktische Erfahrung, degeneriert die Prozessrechtsvorlesung sehr leicht zu einem akademischen Sandkastenspiel, dass mit dem, was in den Gerichtssälen oder darum herum abläuft, kaum noch Ähnlichkeit hat. Was z.B. die Tätigkeit als Strafverteidiger tatsächlich ausmacht, das kann nicht allein erklärt werden, sondern es muss zu einem nicht unerheblichen Teil vorgelebt werden. Da aber aktive oder doch wenigstens ehemalige Strafverteidiger in den Lehrkörpern unserer Fakultäten immer noch eine Seltenheit sind, muss die Lösung darin bestehen, sich die entsprechende Erfahrung von außen zu holen. Und auch in dieser Hinsicht ist Gerhard Strate meiner Einschätzung nach genau der Richtige.
Erlauben sie mir nun noch einige abschließende Bemerkungen dazu, was die Tätigkeit des Strafverteidigers ausmacht. Mit diesen Ausführungen möchte ich weder dem akademischen Festvortrag vorgreifen noch selbst einen solchen halten. Da meine Überzeugung davon, was Strafverteidigung ausmacht, was für das Selbstverständnis des Strafverteidigers wesentlich ist – oder doch sein sollte –, entscheidend durch die Person und das Vorbild Gerhard Strate geprägt wurde, können uns diese Ausführungen vielleicht etwas über die Person Gerhard Strate verraten. Ich stütze mich hierbei zum einen auf Veröffentlichungen des zu Ehrenden, zum anderen und vor allem aber auch auf Äusserungen mir gegenüber sowie vor allem auf das, was ich in den Jahren, die ich für und mit Gerhard Strate arbeiten durfte, beobachtet und registriert habe.
Das Image der Strafverteidiger ist gut und schlecht zugleich. Strafverteidiger
zumindest einige unter ihnen und Gerhard Strate gehört sicherlich dazu – haben einen gewissen Star-Status; andererseits müssen Strafverteidiger mit dem weit verbreiteten Image kämpfen, Quälgeister der Justiz zu sein, professionelle Strafvereiteler, Komplizen der Verbrecher. Bezeichnend hierfür ist die stets wiederkehrende Frage – von Studierenden, im Freundes- und Bekanntenkreis und auch unter Kollegen aus Wissenschaft und Praxis –: Wie man es verantworten könne „so jemanden“ als Mandanten zu haben. Und „so jemand“ ist dann meist ein „Mörder“ oder ein „Vergewaltiger“ - in den letzten Jahren aber auch z.B. ein „Kinderschänder“.
Festzuhalten ist zunächst, das derjenige, der Unschuldige retten will, besser nicht Strafverteidiger werden sollte. Die Verteidigung eines Unschuldigen ist das Highlight im Leben eines Strafverteidigers, in keinem Fall aber das Alltagsgeschäft. Alltagsgeschäft des Strafverteidigers ist die Verteidigung des „schuldigen“ Mandanten. Wer das nicht kann oder wer das nicht will, der kann diesen Beruf nicht ausüben – und er sollte ihn dann auch gar nicht erst ergreifen. Wer als Strafverteidiger tätig ist, muss es verkraften können, dass durch seine Tätigkeit auch ein Schuldiger einmal zu gut wegkommt, im Extremfall vielleicht sogar freigesprochen wird. Gerhard Strate hat diesen Sachverhalt in dem bereits erwähnten Aufsatz zur Tätigkeit des Verteidigers im Wiederaufnahmeverfahren wie folgt beschrieben: „Zunächst muss sich jeder Verteidiger klar sein, daß unser Rechtsstaat zwar viele Mängel hat, im Ergebnis jedoch überwiegend die Richtigen trifft, auch wenn die Urteile mitunter lückenhaft, manchmal auch schludrig begründet sind und das Strafmaß gelegentlich überzogen ist. Jede andere Einschätzung wäre fatal: eine Strafjustiz, die zur Hälfte Unschuldige in die Gefängnisse schickt, gibt es nur unter den Bedingungen des Staatsterrorismus.“
Was kann, was soll einen vor diesem Hintergrund dann dazu bewegen, Strafverteidiger zu werden? Anlass kann sein: eine Skepsis gegenüber dem Anspruch des Staates auf Strafverfolgung oder auch generell eine Skepsis gegenüber dem Staat als solchen. Es gibt solche Verteidiger, ich würde behaupten – und die eben zitierten Passagen belegen diese Behauptung – Gerhard Strate gehört nicht zu ihnen. Entscheidend ist bei ihm vielmehr eine tiefverwurzelte Skepsis gegenüber Machtausübung, das Bedürfnis, auf der Seite derer zu stehen, die vom Staat – und noch viel wichtiger: von der Gesellschaft – an den Rand gedrängt oder sogar ausgestoßen werden. Veranschaulichen lässt sich diese Haltung mit einer Szene aus einem amerikanischen Spielfilm, der einem wahren Fall nachempfunden ist und die Gerhard Strate gerne selbst zitiert. In dieser Szene trifft ein Anwalt einen potentiellen Mandanten. Der Anwalt ist aus verschiedenen Gründen eigentlich eher nicht geneigt, den Fall zu übernehmen – der potentielle Mandant ist ihm nicht sympathisch, er hält den Mandanten für schuldig und den Fall für praktisch verloren. In dem Gespräch zwischen Anwalt und Mandant fällt dann der in unserem Zusammenhang relevante Satz. Der Anwalt meint, es gäbe eigentlich nur einen Umstand der dafür spricht, den Fall zu übernehmen: „Alle sind gegen sie“. Der Beschuldigte erwartet von seinem Strafverteidiger völlig zu recht, dass sich dieser für ihn einsetzt. Verteidigung darf keine bloße pro-forma-Angelegenheit sein, sondern muss – selbstverständlich in den Grenzen des prozessual zulässigen – faktisch wirksam erfolgen. Der Wille zur Parteinahme für den Beschuldigten muss sich deshalb mit der Bereitschaft verbinden, sich tatsächlich und effektiv für den Beschuldigten einzusetzen.
Dieser Einsatzwille speist sich bei vielen Strafverteidigern – und hier würde ich auch Gerhard Strate einbeziehen wollen – aus einem quasi-sportlichen Bedürfnis, dem Befürfnis, „gewinnen“ zu wollen. Bei Gerhard Strate resultiert dieser Einsatzwille aber auch und vor allem aus einer Begeisterungsfähigkeit für die Sache, die letztlich auf der Grundlage eines festen Glaubens an das Gute im Menschen gründet und die ihn – soweit ich es zu beurteilen vermag – bisher davor bewahrt hat und hoffentlich auch zukünftig davor bewahren wird, zu dem zu werden, was viele andere langjährige Strafverteidiger geworden sind: mehr oder weniger melancholische Zyniker.
Lieber Gerd, ich beglückwünsche Dich zu dieser Ehrung, die Dir hier und heute völlig zu recht widerfährt. Ich beglückwünsche aber auch die Fakultät zu der Wahl, die sie getroffen hat. Dass die Fakultät, vor allem aber auch die Studenten von einer Mitwirkung Gerhard Strates profitieren werden, steht für mich außer
Frage – und ich denke, der Kollege Sowada, der ja bereits Lehrveranstaltungen zusammen mit Gerhard Strate durchgeführt hat, wird dies bestätigen können. Die Studenten brauchen Vorbilder, die Studenten wollen Vorbilder – und hier bekommen sie nun eins. Aus langjähriger Erfahrung – als Referendar, als Mitarbeiter und als Mitdozent in der Fachanwaltsfortbildung – würde ich nur eine Einschränkung machen wollen: Veranstaltungen mit Gerhard Strate sollten möglichst nicht vor 11.00 Uhr vormittags beginnen und sie sollten die eine oder andere Kaffee- und Zigarettenpause ermöglichen.