Der Schlaf der Gerechten – zum Umgang der Strafverteidiger mit der Wiederaufnahme
von Rechtsanwalt Dr. iur. h.c. Gerhard Strate, Hamburg *
Es gehört zu den Eigenarten unseres strafjustitiellen Systems (hier gibt es keine Unterschiede zwischen Deutschland und Europa, zwischen Europa und Amerika), dass die hehren Prinzipien, die es strukturieren und prägen sollen, in der Praxis des Tages eine erstaunliche Banalisierung erfahren. Wahrheitssuche, gerechter Schuldausgleich, Freiheitsanspruch – das hat zwar alles einen gewissen Wert, der aber nicht in großen Scheinen, sondern nur in kleiner Münze gehandelt wird. Hätten die Beteiligten eine normale Psyche, so müssten sie an der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit eigentlich irre werden. Irre werden aber – jedenfalls gelegentlich – nur die Laiendarsteller des Strafprozesses, die Angeklagten, wenn bei Eintritt der Rechtskraft alle Hoffnung zerstoben, jeder Beistand verschwunden ist. Intakt bleiben allein die professionell Beteiligten (Richter, Verteidiger, Staatsanwälte), die sich im steten Rhythmus beruflichen Kreislaufs einer neuen Sache zuwenden. Ihr Seelenfrieden ist umhegt durch einen Panzer. Haben sie ihren Realitätssinn nicht verloren, werden manche mit der Zeit zu lächelnden Zynikern, ist der Realitätssinn entschwunden, gebärden sie sich als schmallippige Heuchler.
Eine Banalisierung des Freiheitsbegriffs erlebte am 8. Dezember 2005 auch Robert Clark. Wer ist Robert Clark? Robert Clark war 24 Jahre zuvor durch ein Gericht in Atlanta/Georgia wegen Raubes und Vergewaltigung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden[1]. Am 8. Dezember 2005 wurde er nun in einem Wiederaufnahmeverfahren von diesem Vorwurf freigesprochen. Die Verhandlung vor der Richterin Dorothy Robinson im Cobb County Superior Courthouse in Marietta/Georgia dauerte fünfzehn Minuten, war reine Formsache. Am Ende der Sitzung klopfte sein Verteidiger ihm auf die Schulter: „Hey Buddy, you can go. There is the door!“ 24 Jahre lang hatte Robert Clark gespürt, welch profanen Inhalt der Freiheitsbegriff haben kann. „There is the door!“ Freiheit als die Freiheit, eine Tür selbst öffnen zu dürfen – und die Steigerung der Freiheit: auch noch den passenden Schlüssel zu besitzen.
Das Verbrechen, für das Clark büßen musste, hatte sich im Juli 1981 in Atlanta ereignet. Eine Frau war in ihrem Wagen von einem bewaffneten Mann überfallen, geschlagen und drei Mal vergewaltigt worden. Schließlich hatte sie der Peiniger nackt und gefesselt am Straßenrand zurückgelassen und war in ihrem Wagen geflüchtet. Einige Wochen später wurde Clark im gestohlenen Auto der vergewaltigten Frau gesehen und festgenommen. Er habe das Auto von seinem Freund Tony Arnold, gab der damals 21-Jährige zu Protokoll.
Doch die Ermittler schenkten ihm keinen Glauben. Obwohl Clark eigentlich gar nicht auf die erste Täterbeschreibung passte, war das Opfer nach einer Gegenüberstellung sicher, dass es sich bei ihm um ihren Vergewaltiger handeln müsse. Die Polizisten hatten ihr nur eine einzige Person präsentiert.
„Der leitende Ermittler war so fokussiert auf Robert, dass er keine anderen Verdächtigen oder Vorfälle mehr wahrnahm“, erklärte nach dem Freispruch sein Verteidiger Peter Neufeld. Dabei sei sein Mandant einen Kopf größer, als das Opfer angegeben hatte. „Dieser Tunnelblick der Polizisten hat Robert nicht nur ein Vierteljahrhundert seiner Freiheit gekostet, sondern auch noch einem Serienvergewaltiger die Gelegenheit zu mindestens drei weiteren Taten gegeben.“ Denn trotz Clarks Hinweis ging kein Beamter der Tony-Arnold-Spur nach.
Den damals zuständigen Richter interessierte der zweite Verdächtige ebenfalls nicht – obwohl eine Zeugin auch Arnold in dem gestohlenen Wagen gesehen hatte. Als Clark im Gericht (kurz vor Verkündung des Strafmaßes) darauf hinwies, gebot ihm der Richter zu schweigen: „Sie hatten ihren Prozess, Mister Clark.“ Dann verurteilte er den Angeklagten zu lebenslanger (und weiteren zwanzig Jahren) Freiheitsstrafe.
Seit dem Ende der neunziger Jahre bemühte sich Clark immer wieder darum, durch einen DNA-Test seine Unschuld zu beweisen. Doch erst im Jahr 2003 bekam der Häftling einen ganz besonderen Helfer: Das „Innocence Project“ hatte von Clarks Fall erfahren, bot seine Hilfe an und gab dem Fall eine dramatische Wende.
Das „Innocence Project“ – zu deutsch: das Unschuldsprojekt – war 1992 von den Bürgerrechtsanwälten Barry C. Scheck und Peter J. Neufeld an der New Yorker Benjamin N. Cardozo School of Law ins Leben gerufen worden. Es bezeichnet sich selbst als „legal clinic and justice resource center“[2]. Gedacht ist es als eine Rechtsberatung für diejenigen, die zwischen die Mühlsteine des amerikanischen Justizsystems geraten sind, für Menschen, die wegen
Raubes, Mordes oder Vergewaltigung verurteilt und dann vergessen wurden. Unter Aufsicht von erfahrenen Anwälten und Rechtsexperten überprüfen Jura-Studenten die Fälle von Häftlingen, die glauben, ihre Unschuld mittels DNA-Analyse beweisen zu können. Nur wenn von der Tat noch biologische Spuren wie Blut, Sperma, Gewebeanhaftungen oder Speichel existieren, anhand derer man eine solche Analyse durchführen kann, nimmt das Projektteam zusammen mit rechtsmedizinischen Labors eigene Untersuchungen auf und kämpft um eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Für bereits Verurteilte wie Robert Clark ist dies oft die einzige Chance, einen solchen DNA-Test machen zu lassen.
Obwohl der zuständige District Attorney (Staatsanwalt) dagegen war, überzeugten Neufeld und das hinter ihm stehende „Innocence Project“ das Gericht, Clarks DNA noch einmal mit Spuren vom Tatort vergleichen zu lassen. Das Ergebnis war eindeutig: Clark hatte mit der Vergewaltigung nichts zu tun.
Der Initiative des „Innocence Project“ hatten die Ermittler es auch zu verdanken, dass schließlich der wahre Täter gefunden wurde: Als die Beamten die DNA-Spuren vom Tatort noch einmal in ihre Gen-Datenbank eingaben, stießen sie auf einen alten Bekannten: Tony Arnold. Außerdem stimmte Arnolds DNA mit den Spuren aus zwei weiteren, bislang ungelösten Vergewaltigungsfällen in Atlanta überein. Arnold war nicht schwer zu finden: Er saß unter anderem wegen illegalen Waffenbesitzes hinter Gittern. Am 31. Januar 2006 wäre er freigekommen.
Was 1992 in einem Büro in der Fifth Avenue als eine kleine, gemeinnützige Initiative begann, ist heute eine unter Juristen und Menschenrechtlern in den ganzen Vereinigten Staaten anerkannte Institution. Das „Innocence Project“ ist außerordentlich erfolgreich: Von bis jetzt insgesamt 184 Verurteilten (darunter viele mit lebenslangen Freiheitsstrafen und einige mit noch nicht vollstreckten Todesstrafen), die aufgrund nachträglicher DNA-Analysen freigesprochen werden mußten, wurden mehr als die Hälfte von dem Team um Scheck und Neufeld betreut. Nach dem Vorbild des „Innocence Project“, welches an der Benjamin Cardozo School of Law in New York City seine Heimat fand, haben sich im Verlauf der neunziger Jahre vergleichbare Projekte in fast allen Bundesstaaten der USA etabliert[3]. Selbst für Alaska gibt es ein „Innocence Project Northwest“.
Wäre ein solches Projekt auch in Deutschland möglich und sinnvoll? Die Antwort gibt die Praxis. Es ist jedoch nicht die Praxis der deutschen Strafverteidiger, sondern die Praxis der deutschen Polizeien. Sie setzen das Projekt allerdings nicht als „Innocence Project“, sondern als „Guilty Project“ um. Seit Mitte der neunziger Jahre wird seitens der Landeskriminalämter,
unterstützt durch das Bundeskriminalamt, systematisch das Spurenmaterial unaufgeklärter schwerer Kriminalfälle mit dem angewachsenen Datenbestand vor allem der DNA-Dateien abgeglichen. Und nicht nur das: die mit verfeinerten Methoden der Analyse untersuchten asservierten Spuren der Altfälle geben Anlaß zu richterlichen Beschlüssen, durch welche ehemals Verdächtige zur Abgabe von Vergleichsspuren angehalten werden. In fast jedem Landgerichtsbezirk sind in den letzten Jahren Strafverfahren anhängig gewesen und haben vielfach
aufgrund beweiskräftiger DNA-Spurensuche zu rechtskräftig gewordenen Verurteilungen geführt, in welchen die zugrunde liegenden Straftaten vor vielen Jahren zunächst unaufgeklärt blieben. Eine im Juni 1986 mit mikrobisch kleinen Tröpfchen Nasenschleims benetzte Staubmaske, wie sie von Malern beim Herabziehen alter Tapeten benutzt wird, führte beispielsweise – in einem der ersten Verfahren dieser Art – 14 Jahre später zur Aufklärung eines in einem Einfamilienhaus nach Mitternacht an den drei schlafenden Opfern verübten Mordes[4].
Warum, so muß man fast provokativ fragen, überlassen wir Strafverteidiger den Kriminalämtern die Wahrheitssuche? Gibt es nur unaufgeklärte Verbrechen oder gibt es vielleicht auch unentdeckte Justizirrtümer?
Ein Mangel an Spurenmaterial kann die Lähmung der Strafverteidigerzunft nicht erklären. Keineswegs verschwindet es sofort nach Eintritt der Rechtskraft. Bei Kapitalverbrechen werden die Spurenasservate ebenso lange aufgehoben wie die Akten, nämlich mindestens dreißig Jahre. Auch bei anderen Deliktsgruppen wird das Spurenmaterial nicht sofort nach dem Misserfolg der Revision vernichtet. Bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung beispielsweise wird es wenigstens fünf Jahre aufbewahrt.
Was ist es, das die Zunft der deutschen Strafverteidiger davon abhält, ähnlich segensreich der Selbstgewißheit unserer Strafjustiz entgegenzutreten wie es die amerikanischen Kollegen seit Jahren erfolgreich praktizieren? Wirkt die Vergötzung der Rechtskraft auch in ihren Köpfen? Ist es das stille Einverständnis mit einer Justiz, der man zwar gelegentlich mutig den Kampf liefert, die Niederlage in diesem Kampf (spätestens nach verlorener Revision) dann aber mit der Kapitulation verbindet?
Wer die immergleichen (leicht variierten) Themen der Strafverteidigertage sich betrachtet, erkennt sehr schnell (schon an den Überschriften), daß wir ständig im Begriff sind, vom Rechtsstaat in den Sicherheitsstaat, vom Rechtsstaat in den Präventionsstaat, vom Rechtsstaat in den latenten Polizeistaat zu transzendieren. Die Strafverteidiger halten die Prinzipien hoch und verteidigen sie gegen die Ausrichtung der Strafprozeßordnung auf polizeiliche Gefahrenvorsorge[5]. Die Bedrohlichkeit des kritisch ausgemalten Szenarios steht allerdings in einem
merkwürdigen Kontrast zu der Tendenz, sich gleichzeitig breit Gedanken um Verständigungsprozesse zu machen und gar neue Prinzipien, etwa das Konsensprinzip, zu kreieren. Die
Verformer der Prinzipien und ihre Verfechter sind einander immer noch verwandt genug, um sich im Konsens zu finden. Die Unschuld des Systems wird hochgehalten, die Unschuld seiner Opfer nicht immer bedacht[6].
Ich schließe mit einem Gedicht des 21 Jahre alten Karl Marx[7] aus dem Jahre 1837:
Kant und Fichte gern zum Äther schweifen,
Suchten dort ein fernes Land,
doch ich such’ nur tüchtig zu begreifen,
Was ich – auf der Straße fand!
* Es handelt sich um einen Vortrag, den der Verfasser auf der Veranstaltung des Verlages C.H. Beck am 8.9.2006 aus Anlaß der Präsentation des von Widmaier herausgegebenen „Münchener Anwaltshandbuchs Strafverteidigung“ in München gehalten hat.
[1] Die Fakten des Falles sind entnommen den Internet-Veröffentlichungen des (unten noch näher dargestellten) „Innocence Project“. Siehe die Website http://www.innocenceproject.org/docs/ClarkPressRelease.pdf.
[2] Die Homepage kann aufgerufen werden unter http://www.innocenceproject.org.
[3] Eine aktuelle Übersicht aller Projekte findet sich beispielsweise unter http://www.law.wisc.edu/fjr/innocence/other_ips.htm.
[4] LG Itzehoe, Urt. vom 6.10.2000 – 9 Ks (4/99) V.
[5] Diese Position ist zwar grundsätzlich richtig; an ihrer Verteidigung hat sich auch der Verfasser schon frühzeitig beteiligt: ZRP 1990, 143 ff. und StV 1992, 29 ff. Irritierend ist allerdings das stille Arrangement, welches manche Prinzipienherolde im Alltag des Strafprozesses (an den 363 Tagen im Jahr, wo nicht Strafverteidigertag ist) mit ihren ideologischen Kontrahenten treffen.
[6] Von 30 Strafverteidigertagen hat sich ein einziger – der 16. Strafverteidigertag in Hamburg 1992 – in einer Abteilung mit dem Wiederaufnahmerecht befaßt. Die beiden Referenten – Peter Rieß und Steffen Stern – sprachen zu drei interessierten Zuhörern.
[7] Marx/Engels, Werke, Ergänzungsband I, Berlin 1968, S. 608.