Gerhard Herdegen zum 80. Geburtstag
von Rechtsanwalt Dr. iur. h.c. Gerhard Strate, Hamburg
Es ist ein Segen für diese Republik, dass ihre Justiz dem Berufsrichtertum zum Trotz immer wieder starken Persönlichkeiten Raum zur Entfaltung und Zeit zum lichtvollen Wirken gelassen hat. Zu ihnen zählt Gerhard Herdegen.
Geboren am 30.9.1926 in einer Kleinstadt im Frankenwald, begann der Handwerkersohn nach abgeschlossenem Studium und Referendariat 1959 als Staatsanwalt. Schon ein Jahr später folgte die Abordnung an den Bundesgerichtshof in den Kreis der wissenschaftlichen Mitarbeiter, ausgerechnet an den 2. Strafsenat, dessen Vorsitz er später – von 1985 bis 1991 – innehaben sollte. 1963 kehrte er zurück nach Franken, um am Amtsgericht Hof zunächst in einem kurzen Intermezzo als Zivilrichter tätig zu sein. 1968 vollzieht er auch beruflich den Schritt ins Revisionsrecht. Er wird Oberstaatsanwalt bei dem Generalstaatsanwalt am OLG Bamberg, dem sich dann 1972 die Berufung an den BGH anschließt. Dort blieb er dann weitere neunzehn Jahre seines beruflichen Wirkens, seit 1982 als Vorsitzender Richter des 1. Strafsenats, um dann 1985 den Vorsitz des 2. Strafsenats zu übernehmen. Seinen Abschied von der Herrenstraße in Karlsruhe zelebrierte im Oktober 1991 eine große Schar von Richtern, Verteidigern, Staatsanwälten und Wissenschaftlern in einem festlich gestalteten Kolloquium.
Es gibt Menschen (in der Literatur steht hierfür beispielhaft Theodor Fontane), deren Schaffenskraft früh einsetzt, die aber erst richtig nach Erreichen der Lebensmitte – als Ergebnis eines von lebendiger Anschauung durchdrungenen tiefen Nachdenkens – Werke zuwege bringen, die über den Tag hinausweisen. Herdegen hatte sich in der Fachöffentlichkeit zwar schon früh zu Wort gemeldet: ein kleiner Aufsatz erschien 1963 in Goltdammer’s Archiv. In der seit 1974 erschienenen 9. Auflage des Leipziger Kommentars (wie auch in den beiden weiteren Auflagen) wirkte er als Autor mit, der sich mit der Rechtsprechung seines Gerichts, des BGH, wiederholt kritisch auseinandersetzt. Regelrecht wegweisend und ein Werk von Dauer wurde seine Kommentierung des Beweisantragsrechts in dem seit 1982 erscheinenden Karlsruher Kommentar: sprachlich auf höchstem Niveau, in der Handhabung der Begrifflichkeiten von größter Trennschärfe, tief durchdrungen von rechtsstaatlichem Impetus. Hervorzuheben ist vor allem seine – in der letzten Auflage nochmals akzentuierte – Bekräftigung, dass das richterliche Aufklärungsgebot das eigenständige Beweisantragsrecht nicht überflüssig mache: die Pflicht des Gerichts zur Ermittlung des wahren Sachverhalts allein biete keine Gewähr für seine Erfassung.
In die Zeit seines Wirkens als Vorsitzender des 2. Strafsenats fallen zeitgeschichtlich wichtige Entscheidungen, aber auch solche, die über den aktuellen Bezugspunkt weit hinausreichen. Zu den ersteren gehörte 1989 die erste Revisionsentscheidung in der Sache der Monika Weimar (BGHSt 36, 119). Ihr Rechtsmittel war damals erfolglos. Die Sorgsamkeit, mit der Herdegen das Urteil über mehr als eine Stunde hinweg mündlich begründete, beeindruckte auch ihre Verteidiger. Sein Vergleich des Falles mit einer „antiken Tragödie“ ließ die Fairneß spüren, die Herdegen als Richter auch dem aus seiner Sicht schuldig Gewordenen entgegenbrachte. Eine für die Entwicklung des Strafrechts historische Entscheidung (im Hinblick auf die strafrechtliche Verantwortung von Geschäftsleitungen) verkündete Herdegen ein knappes Jahr später (BGHSt 37, 106 – „Lederspray“).
Die unvermindert schöpferische Bereitschaft zu radikalem (an die Wurzel gehenden) Denken offenbart Herdegen in seinem jüngst erschienenen Beitrag in der Festschrift für Christian Richter II, in welchem er gegen die Dogmen der Strafrechtstheorie die Verneinung der Willensfreiheit setzt. Er wird damit viel Widerspruch provozieren. Welch größeres Glück könnte Herdegen widerfahren? Wo die Würde des Alters sich mit dem Geist frischer Negation verbindet, haben auch die jüngeren Juristen ein Vorbild gefunden.